Die Musik ist unsere Liebe

Ein kryptographisches Exlibris aus Zürich

von Peter Rath

Dem genau betrachtenden Sammler gelingt es immer wieder, neue, bisher verborgene Inhalte auf seinen Exlibris zu entdecken. Doch nicht immer findet sich ein Blatt, wie jenes für die Musikgesellschaft in Zürich, das eine so außergewöhnliche Fülle an Informationen bietet. Das Züricher Exlibris

Das um 1700 entstandene Exlibris (Abb.1) ist ein Kupferstich von Johannes Meyer d. J., Maler und Kupferstecher in Zürich von 1659-1712.
Im Vordergrund des Blattes ist ein lateinischer Text plaziert, und in der Mitte reitet Arion auf dem Delphin im Zürichsee vor der Stadt Zürich. Im Hintergrund über der Kirche St.Peter, als oberster mittlerer Blattschmuck, schwebt das Wappen des Kantons und der Stadt Zürich. Deutlich erkennbar ist oberhalb von Arion ein Teil der zwischen 1642 und 1678 erbauten Befestigungsanlagen.
Dieses Sujet erscheint das erste Mal auf einem Neujahrsblatt der „Musik-Gesellschaft auf dem Musiksaal beim Fraunmünster“ im Jahre 1686, dann 1718 als Titelvignette des Protokollbuches derselben Gesellschaft. Es wurde wieder benützt, um die linke innere Flügeltüre eines Orgelpositivs zu zieren, das ab 1727 den Musikern zu Verfügung stand. (Abb.2)
Dieses Blatt ist offensichtlich ein Eigentumszeichen, das unter Verwendung derselben Motive mit unterschiedlicher Textanordnung mehrmals verwendet wurde. Kleine Spuren von Leimrückständen auf der Rückseite weisen eindeutig daraufhin, daß der Stich als Exlibris oder Exmusicis Verwendung fand.
Die Musikgesellschaft beim Kornhaus, später „ab dem Musiksaal beim Fraunmünster“, gegründet 1613, war vermutlich die älteste unter den Züricher Musikgesellschaften. Sie war eine von vielen Musik-Collegien, die in Zürich im 17. und 18. Jh. entstanden sind, da die Reformation die Musik aus Zürichs Kirchen verbannt hatte. Diese Collegien, nur von privater Hand gefördert, widmeten sich der Pflege der geistlichen und weltlichen Musik. 1812 erfolgte dann der Zusammenschluß aller Züricher Musik-Collegien zur „Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich“


Deutung: Bei diesem Exlibris, das dem Symboldenken und der Auslegungstradition des Mittelalters verhaftet ist, bietet sich eine dreiteilige emblematische Deutung an. Die Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens, des Darstellens und Deutens des folgenden emblematischen Erklärungsversuches beruht darauf, daß das Abgebildete mehr bedeutet als das Dargestellte.

1. Die P i c t u r a , (Icon, Imago, auch Symbolon) zeigt Arion, den griechischen Sänger und Dichter aus dem Anfang des 6. Jh. vor Chr., auf dem Delphin. Wir verdanken Herodot die Überlieferung seiner Lebensgeschichte. Geboren in Methymna auf Lesbos, wanderte er nach Korinth, wo er zur Zeit des Tyrannen Periander (ca. 625-585 v. Chr.) als erster eine dem Dionysoskult verbundene Art des Chorgesanges, den Dithyrambus, zur Kunstform erhoben hat. Obwohl Arion ein berühmter Kitharöde war, ist nicht bewiesen, ob sein Dithyrambus von diesem Instrument begleitet wurde. In der spätarchaischen und klassischen Zeit wurde der Dithyrambos zur Aulosbegleitung und im phrygischen Modus vorgetragen. Die Kithara war das Instrument des Apollon und der Musen, im Unterschied zum dionysischen Aulos. Nach einem Aufenthalt in Oberitalien und Sizilien trat Arion auf einem Schiff die Heimreise nach Griechenland an. Von korinthischen Seeleuten bedroht, erbat sich der Sänger, ein letztes Mal auf seiner Kithara spielen zu dürfen, und stimmte eine hohe Weise an. Anschließend stürzte er sich ins Meer und wurde auf dem Rücken eines Delphins bei Kap Tainaron, an der Südspitze der Peloponnes, an Land gebracht.
Die Rettung Arions durch einen Delphin weist auf die außergewöhnliche Musikliebe hin, die die Griechen diesem menschenfreundlichen Bewohner der Meere zuschreiben. Er gilt als heiliges Tier des Apollon und wird von Pindar und Euripides als aulosliebend bezeichnet.
Arion auf einem Delphin reitend, ist ein bekanntes und immer wiederkehrendes Motiv in der emblematischen Literatur.

2. Die I n s c r i p t i o , (Motto, Lemma) „Musica noster amor“:

Die Musik ist unsere Liebe, ist ein zu Herzen gehendes Glaubensbekenntnis in der gemeinsamen Sprache der europäischen Humanisten, das die Hingabe und tiefe Verbundenheit mit einer der schönsten und schwierigsten Künste zeigt.

Abb.2

3. Die S u b s c r i p t i o , die das im Bilde Dargestellte erklärt und auslegt und aus dieser Bildbedeutung häufig eine allgemeine Lebensweisheit oder Verhaltensregel zieht (vgl. Anm. 14), ist ebenfalls ein lateinischer Text;

„UT RElevet MIserum FAtum SOLitos que LAbores

die Übersetzung lautet: „Damit sie erleichtere das armselige Schicksal und die gewohnten Mühen“. Dieser Satz bietet folgende Erklärungsmöglichkeiten: a.) Der offensichtlich nicht verschlüsselte Teil dieser Botschaft betrifft die Lebensumstände der Musiker und Sänger der Züricher Musikgesellschaft. Die „Musik möge das armselige Schicksal und die gewohnten Mühen erleichtern“. b.) Bei sorgfältiger Betrachtung des lateinischen Textes ist die Hervorhebung einiger Silben in Großschreibung zu erkennen. In diesem Fall handelt es sich nicht um ein Chronogramm, da die Buchstaben ja keine Jahreszahlen ergeben können, sondern bestenfalls um eine Art Akrostichon.

Die Silben UT, RE, MI, FA, SOL, LA bedeuten die Reihe der sechs Töne von C bis A (C D E F G A). Die Benennung der sechs Tonstufen mit diesen Silben wird Guido von Arezzo (gest. ca. 1050) zugeschrieben. Da sich die Silbe UT nicht optimal zum Solmisieren (zum singbaren Unterlegen eines Textes) eignet, wurde in der Gesangspraxis bald das DO eingeführt. Die hervorgehobenen Tonsilben sind die Anfangssilben des sapphischen Hymnus an den heiligen Johannes, den Patron der Sänger. Diesem Text im sapphischen Versmaß von Paulus Diaconus (8. Jh.n.Chr.) unterlegte Guido eine dorische Melodie. Die erste Strophe des Hymnus lautet: „UT queant laxis REsonare fibris MIra gestorum FAmuli tuarum SOLve polluti LAbii reatum, Sancte Johannes.“Da die erste Verszeile mit dem Ton C und jede weitere Zeile einen Ton höher beginnt, sind die Silben UT RE Ml FA SO LA mit den Tönen C D E F G A identisch (Hexachordum naturale). In seiner Nachdichtung lässt H. J. Moser die Melodie mit dem Ton G beginnen (Hexachordum durum), so daß die Anfangsbuchstaben der Verse die Reihe G A H C D E ergeben: „Gib, daß mit lockerem Ansatz können singen Hehr, was du tatest, Chöre deiner Schüler, daß Dich ohne Fehl Ehren unsere Lippen, heiliger Johannes.“ Diese Solmisationssilben konnten den verschiedensten Melodien unterlegt werden, sie dienten vor allem den Sängern als Gedächtnisstütze, um sich die Stellung des Halbtonschrittes in den verschiedenen Tonarten einzuprägen. Die nahezu geniale Idee, Guidos Tonsilben nochmals einem neuen Text zu unterlegen, spricht für den Witz und die Phantasie der Züricher Musiker und Sänger.

Schlussbemerkung: Es ist mehr als ungewöhnlich, daß die Subscriptio, wie in diesem Fall, so eine Fülle an Informationen bietet. Das zeigt jedoch den Ehrgeiz und das musikalische Wissen der Züricher Humanisten, die sich um die sinnreiche Auslegung von antikem Bildbestand und der Erfindung eines neuen kryptographischen Textes bemühten.

Peter Rath

Kryptogramm von Max Reger
Die Auflösung kommt vom Leser